T. Tönsmeyer (Hrsg.): Hunger under German Occupation in World War II

Cover
Titel
Coping with Hunger and Shortage under German Occupation in World War II.


Herausgeber
Tönsmeyer, Tatjana; Haslinger, Peter; Laba, Agnes
Erschienen
Anzahl Seiten
XIX, 319 S.
Preis
€ 82,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Rutar, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS), Regensburg

Der Band befasst sich in gesamteuropäischer Perspektive mit den Bewältigungsstrategien der Menschen unter den Bedingungen von Krieg und Besatzung im Zweiten Weltkrieg. In vierzehn Fallstudien untersuchen die Autoren die prekäre bis katastrophale Versorgungslage im NS-besetzten Europa. Die geographische Bandbreite reicht von Weißrussland bis in die Niederlande. Die alles verbindende Fragestellung greift E. P. Thompsons Studie zur „Moral Economy“ des 18. Jahrhunderts in England auf: „Being hungry – what do people do?“ (S. 4).

Die Schlüsselbegriffe zur Beantwortung dieser Frage sind „Ersatz“, „Rationierung“, „Behelfswirtschaft“, „Schwarzmarkt“, „Horten“ (von Lebensmitteln) und „Tausch“. Tatjana Tönsmeyer gibt einleitend einen Überblick über die nationalsozialistische Ausbeutungspolitik und wendet sich dann den Mangelökonomien in den besetzten Gebieten zu. Besatzung war nicht nur wirtschaftliche Ausbeutung – sie machte die Sicherung der eigenen Versorgung schwierig, gefährlich und oft illegal. Die lebensnotwendige Mobilität zwischen Stadt und Land war stark eingeschränkt. Die Besatzer regulierten und kontrollierten die Märkte, die Güter und den Handel. Alles, was jenseits dieser Regularien stattfand, wurde streng bestraft.

Wichtig ist auch Tönsmeyers Hinweis darauf, wie rasch die Mangelversorgung den Alltag der großen Mehrheit der ca. 200 Millionen Menschen in Europa, die von der Besatzung betroffen waren, radikal veränderte. Die sozialen Bezugsrahmen verschoben sich: Bestehende Antagonismen radikalisierten sich, die Familie als Unterstützungsinstanz gewann wesentlich an Bedeutung. Schwarzmarkt und Tauschhandel gehorchten eigenen Regeln und Moralitäten, die die Menschen lernen mussten, wenn sie überleben wollten. Hier materialisierte sich, ebenso wie in den langen Schlangen vor den Geschäften und in den Rationierungskarten, die Sozialordnung der Besatzungsgesellschaft. Die rassistischen und utilitaristischen Konzepte der Besatzer legten sich über bestehende Loyalitätsmuster, wie Klasse, Religion, Bildung, Ethnizität und Geschlecht. Dies löste soziale Dynamiken aus, welche die Gesellschaften massiv unter Druck setzten, mit oft langfristigen Folgen.

Leider schließt dieser Band nicht mit einer Zusammenfassung der Herausgeber. Eine solche hätte die Fundgrube der Ergebnisse verdeutlichen und ein wichtiges Forschungsfeld skizzieren können, das über die Beschäftigung mit Mangel und Hunger weit hinausweist. Ebenso fehlt im Buch jeder Hinweis auf das übergeordnete Projekt zu „Gesellschaften unter deutscher Besatzung. Erfahrungen und Alltag im Zweiten Weltkrieg“, welches das dem Band zugrundeliegende Konzept der „Besatzungsgesellschaft“ breit operationalisiert und für einen überfälligen Perspektivwechsel in der Forschung zum Zweiten Weltkrieg und seiner Folgen steht.1

Die Historiographien zum Krieg sind bislang weitgehend nationalstaatlich organisiert, die jeweiligen Forschungsstände unterschiedlich. Eine konstruktive Problematisierung ihrer Zusammenschau wäre nützlich gewesen, wie sich am Beispiel des Kapitels von Jacopo Calussi und Alessandro Salvador zu Italien illustrieren lässt. Hier sicherte der Schwarzmarkt das Leben nicht weniger als in Polen, Frankreich und anderswo. Die nach der italienischen Kapitulation im September 1943 übernehmenden deutschen Besatzer sahen sich nicht nur mit der Mangelökonomie und der rasch aufkeimenden Widerstandsbewegung konfrontiert – sie mussten auch mit ineffizienten italienischen Beamten umgehen, mit Problemen, „die tief in der italienischen Gesellschaft verwurzelt“ waren (S. 110). Impliziert wird hier nichts weniger, als dass „die Deutschen“, im Gegensatz zu „den Italienern“, kompetent und effizient gewesen seien.

Dieser Befund wird nicht problematisiert. Weder wird die Literatur berücksichtigt, die sich mit dem Kompetenzgerangel und -chaos der deutschen Besatzungsinstanzen anderswo auseinandersetzt, noch wird die Interaktion zwischen Italienern und Deutschen mit anderen Kontexten verglichen. Kein anderer Autor im Band verurteilt so kategorisch die Akteure der besetzten Gesellschaft. Calussi und Salvador schreiben, so scheint es, mit Blick auf die Historiographie im eigenen Land. Sie fordern die den Faschismus relativierende italienische Geschichtspolitik der letzten fünfundzwanzig Jahre ebenso heraus wie manches hartnäckig kategorisierende Geschichtsbild – dass nämlich „die Deutschen“ die eigentlich Bösen gewesen seien. Laut Calussi und Salvador agierten die deutschen Besatzer in Italien „pragmatisch“, sogar „fair“ (S. 111), verglichen mit den italienischen Faschisten. Mit Blick auf Italien – und nur mit diesem – ist es schade, dass Violetta Hionidou in ihrem exzellenten Kapitel zu Griechenland sich gänzlich auf die Hungererfahrung konzentriert – hier agierten während der Hungerkatastrophe 1941/42 italienische und deutsche Besatzer.

Interessant ist die Zusammenschau der auf Zeitzeugeninterviews basierten Kapitel. Hionidou hat in psychologisch eindringlichen Interviews sehr persönliche Erzählungen über existentielle Entscheidungen während der Hungersnot 1941/42 in Griechenland generiert. Sie verschränkt diese mit den öffentlichen Versorgungsdiskursen, die die Zukunft der griechischen Nation zentral stellten. Folgerichtig konzentrierten die Hilfsmaßnahmen sich auf Kinder, unter Vernachlässigung anderer Bevölkerungsgruppen. Hionidou zeigt, wie dieser politisch-diskursive Rahmen griechische Familien und ihre Entscheidungen angesichts des drohenden Hungertodes beeinflusste: Wen versorgen? Wen mitnehmen, auf der Flucht in die Türkei oder nach Zypern? Wen notgedrungen zurücklassen?

Im Vergleich zu Hionidou bleiben die ebenfalls auf Zeitzeugeninterviews basierten Kapitel zu Dörfern in Weißrussland (Aliaksandr Smalianchuk und Tatsiana Kasataya), zum drittgrößten Ghetto im NS-besetzten Polen im ostgalizischen Lvov (Natalia Aleskiun), sowie zu den Ghettos in Vilnius und Kaunas in Litauen (Joachim Tauber) eher auf der beschreibenden Ebene. Sowohl Aleskiun als auch Tauber rekonstruieren die existentiell bedeutsamen interethnischen, jüdisch-nichtjüdischen Versorgungsnetzwerke. Sie verdeutlichen, dass auch für die Holocaust-Forschung eine methodische Erneuerung unter dem konzeptionellen Dach der „Besatzungsgesellschaft“ erkenntnisfördernd wäre. Für die weißrussische Historiographie bedeutet die Erarbeitung eines Archivs mit rund 700 Zeitzeugeninterviews ein absolutes Novum. Smalianchuk und Kasataya gelangen indes kaum über eine Auswertung dieser Datenbank hinaus; sie verschränken die individuellen Erinnerungen nicht mit Archivmaterialien.

Irina Rebrova und Elena Strekalova bewerkstelligen im Kapitel zum wegen der Ölreserven und des Zugangs zum Schwarzen Meer für die Nationalsozialisten strategisch wichtigen Nordkaukasus genau dies: Sie stellen ein zwischen 2007 und 2010 entstandenes Zeitzeugenarchiv vor, dessen Fokus auf Kindheitserinnerungen liegt. Diese seien stabiler und deshalb zuverlässiger als die von Erwachsenen – dafür sind sie sehr fragmentarisch, was die Notwendigkeit, sie mit Archivquellen zu verflechten, umso überzeugender hervorhebt.

Jerzy Kochanowski zeigt in seiner eindrücklich dichten Darstellung der Mangelökonomie im Generalgouvernement, dass der Schwarzmarkt mehr als „nur“ eine Bewältigungsstrategie war. Er trug alle Anzeichen einer paraoffiziellen Wirtschaftsform. Beispielsweise war das Fernbleiben vom Arbeitsplatz ein komplexer Ausdruck der Mangelversorgung. Das Verwaltungspersonal registrierte fehlende Arbeiter als krank und erhielt im Gegenzug einen Anteil der auf dem Land beschafften Güter. Um Arbeitskraft zu wahren, waren Arbeitgeber auch in anderer Hinsicht gezwungen, die NS-Arbeitsgesetzgebung zu umgehen. In vielen Unternehmen existierte eine doppelte Buchführung: die eine spiegelte den erwirtschafteten Profit, die andere existierte ohne Bezug zum offiziellen Markt. Lohnsteigerungen etwa wurden oftmals durch Lebensmittelverteilungen gewährt, wobei deren Wert nicht selten einen Monatslohn übertraf. Die auf diese Weise verteilten Waren fanden somit erst gar nicht den Weg auf den Schwarzmarkt. Eine zentrale zusätzliche Einkommensquelle der Arbeiter war der Diebstahl von Rohstoffen und Fertigungsprodukten am Arbeitsplatz. Unternehmen versuchten, mit Hilfe des Schwarzmarktes Rohstoffe zu finden, mit paradoxen Folgen. Im Generalgouvernement bestand eine Schwarzmarkt-Konkurrenz für Stahl, obwohl beide darin verwickelten Unternehmen unter der Kontrolle der Besatzer standen. Zweifellos, so Kochanowski, befand sich der Schwarzmarkt noch jenseits dessen, was normalerweise unter „illegales Wirtschaften“ subsumiert wird.

Der Blick in die Betriebe ist auch in Dirk Luytens Studie zu Belgien aufschlussreich, wo Unternehmer Kohlerationen als Bonuszahlungen an die Bergarbeiter verteilten. Da die belgische Kohle direkt nach Deutschland verschifft wurde, machten die Unternehmer die Bergleute dadurch nicht nur zu Vermittlern am Schwarzmarkt, sondern sie sorgten dafür, dass Kohlenanteile im Land blieben und der deutschen Kriegsanstrengung nicht zur Verfügung standen. Am Beispiel des Streiks um höhere Löhne im Mai 1941 hebt Luyten den Eigen-Sinn der belgischen Bergarbeiter hervor – dieser habe ihnen, mitten im besetzten Belgien, ihre politische Stimme zurückgegeben (S. 159). Mehrere Autoren erwähnen Streiks, solche fanden im Protektorat Böhmen und Mähren, in Norwegen, in Italien, in den Niederlanden und anderswo statt. Die vergleichende Betriebs- und Unternehmensgeschichte unter Kriegs- und Besatzungsbedingungen steht ebenfalls noch am Anfang – eine solche könnte nicht zuletzt die Handlungsrahmen „Widerstand“ und „Kollaboration“ auf eine neue, komplexe und de-ideologisierte Ebene heben.

Kantinen als Ort der Kontrolle – dieses Novum brachte die deutsche Besatzung dem Protektorat Böhmen und Mähren (Jaromír Balcar). Nachdem ca. 600.000 Arbeitskräfte ins Reich deportiert worden waren, mussten vor Ort Bauern, Studenten, Intellektuelle, später auch Frauen und Jugendliche in den Rüstungsfabriken deren Stelle einnehmen. Die Etablierung von Betriebskantinen diente nicht zuletzt der Steuerung des Arbeitseinsatzes – nur diejenigen, die arbeiteten, konnten dort essen. Wie in Belgien und Frankreich arbeiteten auch im Protektorat Besatzer und Unternehmer oft zusammen, um die Produktion zu sichern. Im Kriegsverlauf zeigte sich die Ineffizienz ihrer Maßnahmen. Balcar schließt, ähnlich wie Kochanowski für das Generalgouvernement, dass das zunehmende Fernbleiben vom Arbeitsplatz weniger Widerstand als eine Folge der Unterernährung gewesen sei.

Ingrid J. J. de Zwarte führt am Beispiel der Versorgung von Kindern in den Niederlanden überzeugend das Konzept der Zivilgesellschaft in den Kontext der Mangelökonomie ein. Ab Herbst 1944 verteilten zivile Organisationen, darunter prominent die Kirchen, mit Hilfe lokaler Widerstandsgruppen und Polizeieinheiten Lebensmittel am Schwarzmarkt vorbei. Allen gemeinsam war der Fokus auf Kinder, und das Motiv war dasselbe wie in Griechenland: die Zukunft der Nation zu sichern. De Zwartes Kapitel hebt sich methodisch ab – sie ist die einzige, die das Begriffspaar Vulnerabilität / Resilienz problematisiert. Sie interessiert sich für die Beziehung zwischen der durch Mangelernährung und Hunger bestimmten Vulnerabilität und den sozialen Prozessen, die Resilienz dagegen zu schaffen suchten.

Der methodische rote Faden des Buches ist die lokale Dimension. Hjeltnes spricht von unterschiedlichen Erfahrungen in Oslo, im Landesinneren, in Kristiansand im Süden, in Lofoten im Norden oder in Kirkenes an der Grenze zur Sowjetunion. De Zwarte hebt die Bedeutung lokaler Netzwerke und der Etablierung von Vertrauen zwischen den zivilgesellschaftlichen Akteuren in den Niederlanden hervor. Die meisten Autoren fokussieren auf einen Ausschnitt des gewählten Landes / besetzten Gebiets. Lokal unterschiedliche Kriegserfahrungen machten Stadt- und Landbevölkerungen, politisch geteilte Länder wie Frankreich und Italien, Länder, die in unterschiedliche Besatzungszonen aufgeteilt wurden wie Polen und die Tschechoslowakei, und nicht zuletzt Länder, die mehr als ein Besatzungsregime erlebten, wie Griechenland (Deutschland/Italien/Bulgarien) und Ostgalizien (Sowjetunion/Deutschland).

Würde der lokalen Dimension der Kriegserfahrung in Besatzungsgesellschaften mehr vergleichende Aufmerksamkeit zuteil, könnten überkommene Kriegsnarrative durch nuancierte Herausarbeitung der sich im Kriegsverlauf wandelnden, oftmals paradoxen sozialen Realitäten weiter entwickelt werden. Hierbei geht es keineswegs um eine Provinzialisierung der Geschichtsschreibung, sondern, wie die Fallstudien eindrücklich zeigen, um das Gegenteil. Der Vergleich lokaler Kontexte aus der Perspektive der Besatzungsgesellschaften führt zu einer erkenntnisreichen Gesamtschau, die die nationalstaatlichen Provinzialismen überwinden kann.2

In der Wirtschaft Polens lassen sich für die 1980er-Jahre erstaunliche Parallelen zum unter der Besatzung etablierten Schwarzmarkt nachweisen (Kochanowski). Die im Krieg erstmals etablierten Betriebskantinen im Protektorat wurden in der Nachkriegstschechoslowakei fortgeführt und mehr denn je zu Orten ideologischer Indoktrination (Balcar). In Frankreich bestimmte der Schwarzmarkt bis 1949 die Versorgungslage vieler Menschen (Grenard). Ausblicke wie diese sprechen darüber hinaus für eine verstärkte sozialgeschichtliche Aufbrechung gängiger Epochengrenzen zwischen Krieg und Nachkrieg/Kaltem Krieg.

Diesem Band sei richtungsweisende Wirkung gewünscht. Spätestens seit dem Deutschen Historikertag in Münster 2018 hat sich die Diskussion um das Selbstverständnis der historischen „Zunft“ intensiviert.3 Die europäischen Gesellschaften polarisieren sich, politische Konstrukte, die infolge des Zweiten Weltkriegs entstanden sind, wie die Europäische Union und das nordatlantische Bündnis, sind infrage gestellt. Eine paneuropäische Forschungsagenda könnte den Anspruch einlösen, eine differenzierte, multiperspektivische Gesellschaftsgeschichte der postimperialen, sich nationalisierenden Gesellschaften des 20. Jahrhunderts zu etablieren: eine Gesellschaftsgeschichte, die demokratiefördernd wirken kann, wenn sie ihre Stimme entschlossen aus der historischen „Zunft“ hinaus in die öffentlichen Debatten trägt.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Projektwebsite http://www.societies-under-german-occupation.com (28.06.2019).
2 Vgl. hierzu den jüngst erschienenen Band Xavier Bougarel / Hannes Grandits / Marija Vulesica (Hrsg.), Local Dimensions of the Second World War in Southeastern Europe, London 2019.
3 Vgl. die gelungene Zusammenschau der bisherigen Diskussion durch Krijn Thijs, Demokratie als Funktionsbedingung. (Zwischen-)Bilanz der Kontroverse um die „politische“ Resolution des Historikerverbandes, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 16 (2019), S. 154-163, URL: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2019/5691 (28.06.2019).

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